Konrad Heumann und Karoline Sinur (Hgg.)
„Welch kleiner Teufel führt Ihre Hand?“
Autoren der Gegenwart im Dialog mit Handschriften der Romantik
„Schläft ein Lied in allen Dingen“… Wer kennt sie nicht, Eichendorffs Wünschelrute? Viele sind dem Gedicht in der Schule begegnet − manche teilten die Sehnsucht, die in Eichendorffs Worten liegt, andere quälte das stupide schulische Auswendiglernen und Rezitieren. Dabei waren diese vier Verse vor allem: ein Text, gedruckt im Schulbuch oder der Gedichtanthologie. Ein Erlebnis, das deutlich verschieden ist vom Lesen der gedruckten Buch-Zeilen, beschreibt Thea Dorn in dem 2017 erschienenen Band „Welch kleiner Teufel führt Ihre Hand?“ Autoren der Gegenwart im Dialog mit Handschriften der Romantik. Nachdem sie sich im Freien Deutschen Hochstift in Frankfurt über die Handschrift gebeugt hatte, auf der sich die Skizzen und Vorentwürfe zur Wünschelrute befinden, erschließt sich ihr ein neues Verständnis des Dichters und seiner vier Verse, die zu den berühmtesten der deutschen Romantik werden sollten.
Im vorliegenden Band finden wir neben Dorns Ausführungen acht weitere Begegnungen zwischen Gegenwartsautor*innen und einer Handschrift der Romantik, die verschiedener kaum sein könnten und sich doch gleichen in ihrer persönlichen Zuwendung. Eichendorff-Handschriften haben auch Wolfgang Büscher und Katharina Hacker ausgewählt, Feridun Zaimoglu, Peter Härtling und Sibylle Lewitscharoff setzen sich mit Autographen von Clemens Brentano auseinander, Eva Demski tritt in Dialog mit Karoline von Günderrode und Patrick Roth begegnet einer Handschrift von Novalis. Der Auseinandersetzung gehen jeweils abgedruckte Fotos von der Handschrift und der transkribierte Text voraus sowie ein kurzer Einführungstext der Herausgeber*innen, der eine stabile und gleichsam poetisch gestaltete Brücke zwischen wissenschaftlicher Genauigkeit und informativer Unterhaltung schlägt.
Die neun Begegnungen sind das Ergebnis einer Kooperation des Hessischen Rundfunks (hr2-kultur) und des Freien Deutschen Hochstifts, die zwischen 2012 und 2014 im Rahmen der Veranstaltungs- und Sendereihe „Handschriften der Romantik, neu gelesen“ Gegenwartsautor*innen ins Handschriftenarchiv des FDH einluden. Nun sind die Begegnungen in Buchform konserviert.
Die Herausgeber*innen Karoline Sinur und Konrad Heumann betonen die besondere, geradezu auratische Wirkung, die von alten Autographen vor allem in unserer digital geprägten Welt ausgeht. Handschriften seien „nicht nur Texte […], sondern Textkörper, die in anderer Weise Zeugnis von ihrem Verfasser geben als dies gedruckte Bücher tun“ (S. 11). Sie sind Ausdruck von Gedanken, aber auch „Ausdruck der Situation, in der sie niedergeschrieben wurden“ (ebd). Davon, dass der Einblick in diese historisch-persönliche Situation ganz verschiedene Wirkungen auf die Schriftsteller*innen der Gegenwart besitzt, zeugt die vorliegende Publikation. Die neun Begegnungen zeigen in ihrer Verschiedenheit die Beobachtung, die Helmut Müller, Geschäftsführer des Kulturfonds Frankfurt RheinMain, im Grußwort des Bandes beschreibt: „Manche [der Autor*innen] waren voller Ehrfurcht, andere haben die romantischen Autoren in ihrem Ringen um eine dichterische Wendung, um die eine, richtige Formulierung oder gar als ‚Alltagsmenschen‘ lebendig werden lassen“ (S. 5). Die Autor*innen haben sich „auf poetische oder essayistische, analytische oder assoziative, immer aber sehr persönliche Weise [mit] der Geschichte des Schriftstücks, seiner Gestaltung oder der Biographie seines Verfassers“ (S. 5) beschäftigt. Diese Vielstimmigkeit ist es, die das Buch nicht nur zu einer unterhaltenden Lektüre macht, sondern auch die teilweise fast brennend wirkende Aktualität der Romantik unterstreicht.
Dabei werden nicht nur neue Schichten in der Interpretation der romantischen Texte freigelegt, sondern in den Begegnungen der Autor*innen erfahren wir viel über ihr eigenes literarisches Schreiben in der Gegenwart. So betont beispielsweise Katharina Hacker in ihrer Auseinandersetzung mit einer Handschrift Eichendorffs die „Sehnsucht, den Menschen leibhaftig zu finden im Text“ (S. 109), die beim Anblick eines Autographen geweckt wird. Eine Verbindung zwischen der eigenen Gegenwart und den romantischen Handschriften ziehen viele Autor*innen auch in ihrem Interesse für die Entstehung der berühmten Werke der Romantik. Mal mehr, mal weniger explizit setzen sie die Textgenese, die in der Handschrift sichtbar wird, in ein Verhältnis zum eigenen Schaffen. Die Begegnungen werden so tatsächlich zu Dialogen oder zu „Werkstattberichten“ (S. 5), wie Müller es formuliert.
Beispielhaft zeigt sich dies in der eingangs erwähnten Auseinandersetzung Thea Dorns mit Eichendorffs Schläft ein Lied in allen Dingen. Der einleitende Text macht auf die Streichungen, zugefügten Wörter und Verse, auf rote Markierungen und Arbeitsnotizen Eichendorffs aufmerksam und Dorn bekundet, bei ihrem Besuch in der Handschriftensammlung einen ‚neuen‘ Eichendorff kennengelernt zu haben, einen „minutiösen ‚Arbeiter‘“ (S. 37). Neben dieser Beobachtung der Methodik des historischen Kollegen, hebt Dorn auch die aktuelle Bedeutung Eichendorffs für ihr eigenes Leben hervor: Eichendorffs Texte führen sie zu der Erkenntnis, dass „hinter all der Trostlosigkeit, der Gewöhnlichkeit, der Biederkeit unserer so genannten ‚Wirklichkeit‘ [...] die eigentlich Welt“ liege, „in der die Erde ‚wie in Träumen‘ zu rauschen beginnt“ (S. 36). Für Dorn ist die Romantik damit ein Weltdeutungsmodell, eine Möglichkeit, mit der Unsicherheit zwischen der erlebten, aber nicht befriedigenden Normalität und der Ahnung und Hoffnung eines hinter den Dingen liegenden Geheimnisses umzugehen.
Neben der Darstellung der persönlichen Zugangsgeschichte finden sich auch Annäherungen an die Handschriften, die ganz anderer Art sind. Beispielhaft zu nennen sind hier Michael Lentz analytisch-detaillierte Auseinandersetzung mit Schlegels Poesiekreisen oder Feridun Zaimoglus fiktiver Briefwechsel zwischen Clemens Brentano und Karoline von Günderrode. Mit den beiden letztgenannten Gegenwartsautoren spannt sich wohl auch die größte Variationsweite zwischen fast wissenschaftlicher Analyse und Inspirationsquelle für eigene literarisch-fiktive Werke auf. Angeregt durch den wortgewaltigen Brief Clemens Brentanos vom Mai 1802 an Karoline von Günderrode verfasst Zaimoglu eine ebenso sprachmächtige und schneidige Antwort, die er der Günderrode in den Mund legt, und aus der das Titel gebende Zitat stammt.
Welch kleiner Teufel führt Ihre Hand? eröffnet den Lesenden einen Einblick in die reiche Autographensammlung des Freiem Deutschen Hochstifts, es vermittelt die Ahnung eines ganzen Kosmos, der in den überlieferten Papieren schlummert, und dieses Buch macht Lust, diesen Kosmos zu entdecken. Es bringt uns die Romantik jenseits der wissenschaftlichen Analyse oder definitorischen Bestimmung der philosophisch-literarischen Strömung nahe. Das Menschliche, das Einzigartige, die Vielschichtigkeit tritt uns in den neun Begegnungen entgegen. Die Fotografien von Alexander Paul Englert, die jeden Beitrag begleiten, versuchen dabei die Begegnung zwischen den Autor*innen und den Handschriften auch für die Leser*innen erlebbar zu machen. Ganz gelingen kann dies natürlich nicht, doch es macht neugierig, selbst in einen Dialog mit den Handschriften der Romantik zu treten, wenn bald das Romantik-Museum in Frankfurt eröffnet wird.
Rezension verfasst von Annika Bartsch
Die Rezension ist unter dem nachfolgenden Link dauerhaft abrufbar: https://doi.org/10.22032/dbt.61467