Arno Heller

Wilderness

Innere Landschaften in amerikanischer Literatur

Wallstein 2022

Arno Heller bezeichnet mit seinem Buchtitel ein zentrales, bereits breit diskutiertes Motiv amerikanischer Literatur: die Verquickung einer physischen Wildnisreise und Naturerkundung mit innerlichen Prozessen der Bewusstseins- und Identitätsbildung, Reifung und Wandlung. In seinen früheren kulturgeschichtlichen Arbeiten widmet sich der emeritierte Professor für Amerikanistik einzelnen Regionen des nordamerikanischen Kontinents und zeichnet deren Bedeutung für die Herausbildung nationaler Mythen und eines kollektiven amerikanischen Selbstverständnisses nach. Wilderness verfolgt dagegen das Ziel, eine umfassende und überregionale Kultur- und Literaturgeschichte zur Wildnis-Thematik in Nordamerika als Ganzes vorzulegen. Heller charakterisiert seinen Untersuchungsgegenstand einführend als ein spezifisch amerikanisches Phänomen, das der gängigen europäischen Auffassung von Wildnis nur teilweise entspricht und eine Vielzahl nationalgeschichtlicher und -mythischer Bezüge aufweist. Diese Beschäftigung mit dem amerikanischen Wildnismythos in seiner anhaltenden Schlüsselfunktion für das Nationalbewusstsein, den literarischen Kanon und (pop-)kulturelle Paradigmen US-Amerikas knüpft an eine Reihe einschlägiger Publikationen der amerikanistischen Fachwissenschaft an. Neu ist allerdings Hellers Anspruch, den Themenkomplex einem deutschsprachigen, natur- und literaturinteressierten Lesepublikum zugänglich zu machen. Dies gelingt ihm anhand zahlreicher, prägnanter Textanalysen nordamerikanischer Werke, die Wildnis als Projektionsfläche individuellen sowie kollektiven Erlebens und Reflektierens gestalten.

Zunächst skizziert Hellers Einführungskapitel „Wilderness als amerikanischer Mythos“ den kulturgeschichtlichen Hintergrund für die anschließenden Einzelinterpretationen und umreißt die tiefgreifenden Umdeutungen, die das Wildnis-Konzept im kollektiven Bewusstsein Nordamerikas erfahren hat. Begegneten die frühen europäischen Einwander:innen der wilden, bedrohlichen Natur des ‚neuen‘ Kontinents noch mit Furcht und Bemächtigungseifer, glorifizierten die folgenden Generationen sie zunehmend als Alleinstellungsmerkmal der jungen amerikanischen Nation. Heller beleuchtet diesen Gesinnungswandel schlaglichtartig und veranschaulicht, wie der im 19. Jahrhundert einsetzende Wildniskult Eingang in diverse literarische Genre, bildende Künste und kulturelle Strömungen Nordamerikas fand. Sein kompakter historischer Abriss spannt einen weiten Bogen – ausgehend vom „Trauma der Puritaner“ (17), die im November 1620 nach einer dreimonatigen, abenteuerlichen Atlantiküberfahrt erstmals amerikanischen Boden betraten, über die neu einsetzende Romantisierung wilder Natur, welche sich zwei Jahrhunderte später in intellektuellen Kreisen Neuenglands etablierte, bis hin zur kapitalismuskritischen Wildnisverehrung der 1970er Hippie- und Ökologiebewegungen.

Die komprimierte Darstellung solch weitreichender historischer Zusammenhänge geht mit einem stark verkürzten, begrifflich nicht immer konzisen Zugriff auf die beschriebenen philosophischen Strömungen und auf deren zentrale Konzepte einher. Beispielsweise erwähnt Heller mehrfach die Entwicklung vom anthropozentrischen Transzendentalismus früher Nature Writer zu einer biozentrischen, sich radikalisierenden Sicht späterer Autoren und setzt bei seinem anvisierten allgemeinen und deutschsprachigen Lesepublikum die Kenntnis dieser spezifischen Beschreibungskategorien voraus. Auch die wiederkehrenden Begrifflichkeiten Counter Culture, New Ecology, Ökologiebewegung und Deep Ecology werden im vorliegenden Buch kaum eingeführt und nicht trennscharf verwendet. Im Hinblick auf den Korpus der analysierten literarischen Werke hält Heller schließlich seine bewusste Vermeidung einer Zuordnung zum Genre Nature Writing nicht aufrecht und nimmt wiederholt auf die etablierte Textgattung Bezug. Eingangs betont er zwar, dass die Genrebezeichnung aufgrund der „Massenhaftigkeit und Hybridität des Materials“ (10) über das gesteckte Untersuchungsziel wilderness hinausgehe und keine differenzierten Ergebnisse erwarten lasse. Hellers Betrachtung nordamerikanischer Wildnisliteratur bietet allerdings keine profunde begriffliche Abgrenzung zum Nature Writing. Eine klare Unterscheidung der angeführten Textsorten wird zusätzlich durch den Versuch des Autors erschwert, in seinen abschließenden Bemerkungen wiederum „Licht auf das Nature Writing-Genre insgesamt“ (10) zu werfen.

Trotz dieser marginalen begrifflichen Unschärfe gelingt es dem Amerikanisten in seinem kompakten Einführungskapitel, die wesentlichen historischen Prozesse und kulturellen Paradigmen der amerikanischen Mythologisierung von Wildnis auf anschauliche und bündige Weise nachzuzeichnen. Daran anknüpfend verdeutlicht Hellers kulturgeschichtliche Studie die anhaltende Wirkmacht des skizzierten Wildnismythos innerhalb einer großen Variationsbreite nordamerikanischer Texte ab dem frühen 20. Jahrhundert. Heller geht dabei nicht chronologisch vor, sondern verknüpft die Vielzahl der besprochenen Werke zu sechs Themenkomplexen, die kulturell, regional und historisch spezifische Spielarten einer nationalen Wildnisliteratur abbilden. Seine Ausführungen werden von zwei örtlichen Schwerpunktsetzungen gerahmt.

Im Kapitel 2 „Die Wüstenwildnis des amerikanischen Südwestens“ beschreibt Heller die Modellfunktion, welche euro-amerikanische und ethnische Autor:innen dieser Region seit Beginn des 20. Jahrhunderts für die Herausbildung amerikanischer Wildnisnarrative innehaben. Besonderes Augenmerk liegt dabei auf Edward Abbeys autobiographischer Abenteuererzählung und ökologischer Kritik Desert Solitaire (1968). Basierend auf Tagebucheinträgen des Nationalpark-Rangers ist das mehrfach verlegte Werk zum „Klassiker der Wüstenliteratur“ (61) geworden und vermittelt eindringlich die Faszination an der Grenzenlosigkeit und Leere der schroffen Wüstenlandschaft im Arches National Park. Heller betont, dass die Begeisterung Abbeys für die Wüste ebenso ihrer absoluten Gleichgültigkeit gegenüber allem Menschlichen galt. Dementsprechend skizziert er das Bestreben des Autors, sowohl sein menschenzentriertes Bewusstsein als auch den Gegensatz zwischen Mensch und Natur durch die unmittelbare Konfrontation mit der Wildnis zu überwinden. Solche anerkennenden Bemerkungen zur Bemühung einiger Schriftsteller:innen, ihr Verhältnis zu Natur „in Richtung biozentrischer Ganzheit“ (61) umzugestalten, durchziehen Hellers Analysen. Wiederholt stehen sie einer generalisierenden Zurückweisung romantischer und transzendentalistischer Naturbeschreibung diametral gegenüber. Das Streben früher amerikanischer Transzendentalisten und romantischer Nature Writer nach einer Harmonisierung des menschlichen Geistes und der materiellen Natur, welches im Dienst spiritueller Erfahrung und Erkenntnis stand, diskreditiert der Verfasser verkürzt als naturromantische Verbrämung.

Hellers Beschäftigung mit der ökotheologischen Dimension des Wildniskonzepts (Kapitel 5) zeichnet die Entwicklung einer transzendentalistisch geprägten amerikanischen Religion zu naturreligiös-animistischen Überzeugungen nach, die in den 1970er Jahren einsetzte. Naturreligiöse Traditionen und deren holistisches Weltbild betrachtet der Autor zudem im Spannungsfeld indigener Spiritualität und kolonialisierter Lebensrealität der Native Americans (Kapitel 3). Schließlich fokussiert auch seine Auseinandersetzung mit einer von Frauen geprägten, ökofeministischen Einstellung zur Natur (Kapitel 4) auf Vorstellungen von Ganzheit und Holismus. Dies verdeutlicht, dass Hellers Textanalysen das Potenzial diverser Wildnisnarrative ausloten, nicht bloß eine „Fluchtphantasie“ (Kapitel 6) aus dem zivilisatorischen System zu gestalten, sondern das zugrundeliegende Verhältnis von Zivilisation und ‚wilder‘ Natur neu zu imaginieren.

Zum Abschluss seiner umfassenden analytischen Auseinandersetzung mit nordamerikanischer Wildnisliteratur blickt der Amerikanist auf die „Letzte Wildnis Arktis“ (Kapitel 7), eines der letzten großen zusammenhängenden Wildnisgebiete der Erde, das zunehmend durch anthropogene Einflüsse transformiert wird. Anhand exemplarischer Romane der Autoren Barry Lopez und Rudy Wiebe beleuchtet Heller deren harsche literarische Abrechnung mit den kolonialistischen Eingriffen in sensible arktische Ökosysteme, die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts die lokale Flora und Fauna sowie die Lebensräume und -weisen der indigenen Bevölkerung massiv bedrohen. Der kanadische Schriftsteller Wiebe nimmt mit seinem Survival-Roman A Discovery of Strangers (1994) eine Sonderstellung in Hellers Korpus ein – sowohl in seinem Rückgriff auf spezifisch kanadische Mythen einer feindseligen, extrem bedrohlichen Naturwildnis als auch in seiner Darstellung einer radikal pessimistischen Wildniserfahrung.

Demgemäß bemerkt Heller bilanzierend, dass die übrigen untersuchten Texte trotz ihrer verschiedenartigen kulturellen, regionalen und historischen Hintergründe durchweg relativ positive, lebensbejahende und zukunftsorientierte Reaktionen der Charaktere auf deren einschneidende Wildniserfahrungen abbilden. Was die Vielzahl dieser nordamerikanischen Werke verbindet, sei die Absicht, äußere Naturerkundung zu individueller Sinnsuche auszuweiten: „Alle Protagonisten unternehmen eine physische Reise aus der Zivilisation in eine Wildnis, die sich im weiteren Verlauf zu einer ‚inneren Landschaft‘ vertieft“ (239). Während national signifikante Schauplätze und ideologische Prämissen des historischen Wildnismythos in den analysierten Texten eine untergeordnete Rolle spielen, halten diese doch „erstaunlich konstant“ (240) an der etablierten Hochschätzung von Wildnis fest. Der Autor kennzeichnet die anhaltende Bedeutsamkeit von wilderness in ihrer literarischen Gestaltung als Projektionsfläche und Erfahrungsraum innerer Wandlungs- und Entwicklungsprozesse als ein spezifisch amerikanisches Motiv. Er resümiert: „Trotz der Verschiedenheit der Erfahrungen korrespondieren diese Werke in ihrem inneren Gehalt miteinander. Die Identitätssuchen, Heilungen, Regenerationsprozesse und Neuanfänge evozieren eine Gemeinsamkeit, die in ihrer Häufung und Intensität außerhalb der amerikanischen Literatur kaum Entsprechung findet“ (241).

Die große Stärke Hellers Studie besteht darin, dass sie diesen Befund durch eine Reihe kontextuell verankerter, bündiger und anschaulicher Textanalysen nachvollziehbar und zugänglich macht. So zeichnet Wilderness. Innere Landschaften in amerikanischer Literatur ein facettenreiches, kulturhistorisch fundiertes Panorama nordamerikanischer Wildnisliteratur.

Rezension verfasst von Luisa Turczynski

 

Die Rezension ist unter dem nachfolgenden Link dauerhaft abrufbar: https://doi.org/10.22032/dbt.61408

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